Rudolf Herz und Julia Wahren

boykottiert die systeme!
Kunst zum Vormärz von ’68

3 Aktionstage, 7 Filme, 1 Website
München 22. – 24. Juli 2022

 

Der Vormärz der Revolte von '68 in Deutschland ist wenig bekannt. Dabei geht ihr antiautoritärer Aktivismus zum guten Teil auf die Schwabinger Bohème zurück. Treibende Kraft waren die Künstlergruppe SPUR und vor allem die SUBVERSIVE AKTION, inspiriert von der SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE.

In boykottiert die systeme! forschen Rudolf Herz und Julia Wahren nach den revolutionären Strömungen der frühen 60er Jahre in München. Die Suche führt in Archive, Bibliotheken und vor allem zu Aktivist:innen von damals, die heute auf der ganzen Welt verstreut leben und eigens nach München kommen. Herz lädt sie ein zu Diskussionen, Streifzügen durch die Stadt und Besuchen historischer Orte. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Zusammen mit Julia Wahren transformiert er ihren subversiven Spirit in Filme und transmedial-künstlerische Performances im öffentlichen Raum.

Unter Vormärz von ’68 versteht das Projekt boykottiert die systeme! das Jahrzehnt vor der Revolte von 1967/68. In das Jahr 1957 fällt die Gründung der Münchner Künstlergruppe SPUR wie auch der SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE (S.I.), der die Münchner Gruppe einige Jahre angehört. Der Titel des Projekts ist dem Januar-Manifest der SPUR, dem „Gaudi-Manifest“, entlehnt: „Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem Ihr sie nur als missratene Gaudi betrachtet.“

Mit ihren provozierenden Auftritten markiert die SPUR den „Beginn einer ästhetisch-politischen Opposition in der Bundesrepublik“, so der Kulturhistoriker Eckhard Siepmann. Theoretiker der Gruppe ist Dieter Kunzelmann, der sich zum energischen Vertreter der kulturrevolutionären Ideen der S.I. entwickelt.

 

Radikale Kritik der Avantgarde

Die SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE (S.I.), gegründet vom französischen Autor und Filmemacher Guy Debord und dem dänischen Maler und COBRA-Mitbegründer Asger Jorn, vertritt einen unabhängigen Marxismus und sucht nach intellektuellen Freiräumen unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Sie will Kultur und Politik vereinen und ruft zum Angriff auf den Kapitalismus auf: er durchdringe alle Lebensbereiche und beraube die Menschen ihrer wahren Freiheit. Um die repressive Routine des Alltagslebens und die Banalität des Konsumismus zu stören, jegliche Autorität lächerlich zu machen und um Revolutionsphantasien zu beflügeln, entwickelt die S.I. subversive Strategien, die dem Spiel und der Ironie großes Gewicht beimessen. Verstörende Aktionen sollen die „Hermetik der Manipulation“ durchbrechen und bei der Bevölkerung blitzartige Erkenntnisprozesse auslösen. Die radikale Kritik der Avantgarde ist nur vor dem zeithistorischen Hintergrund zu verstehen: dem Erschrecken einer jüngeren Generation angesichts der geistigen und materiellen Verwüstungen durch den Nationalsozialismus, angesichts der Verdrängung seiner Verbrechen und der Verlockungen des aufblühenden Wirtschaftswunders.

Innerhalb der S.I. verschieben sich die Gewichte jedoch zu Ungunsten der Künstler. Als die SPUR 1962 aus der S.I. ausgeschlossen wird, verliert Kunzelmann das Interesse an der Gruppe. Zusammen mit Frank Böckelmann etabliert er 1963 die SUBVERSIVE AKTION, um seine situationistische Provokationspraxis voranzutreiben, und gewinnt Rudi Dutschke als Mitstreiter in West-Berlin, wohin sich nun der Aktionsschwerpunkt verlagert. Innerhalb kurzer Zeit entsteht 1966/67 eine vom SDS geführte Studentenbewegung, die sich nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 radikalisiert und auf die ganze Bundesrepublik überspringt.

 

Neue Lebensmodelle und Formen des Protests

Die antiautoritäre Revolte führt nicht nur zu neuen Formen des politischen Protestes und überhaupt zur Neudefinition des Politischen, sondern auch zu alternativen Lebensmodellen. Große Resonanz in den Medien findet die Anfang 1967 gegründete KOMMUNE 1, eine Berliner Wohngemeinschaft, die sich als Gegenmodell der bürgerlichen Kleinfamilie versteht und der Revolutionierung des Alltags verschreibt. Die antiautoritäre Bewegung zerfällt; die spielerische Dimension des Protests tritt zurück und militante und terroristische Strategien drängen in den Vordergrund.

Rückblickend auf die Studentenbewegung von ’68 spricht Jürgen Habermas von einer fundamentalen Liberalisierung, die die bundesdeutsche Gesellschaft ergriffen hat. Dieser Entwicklung können einige Mitglieder der SUBVERSIVEN AKTION nichts abgewinnen. Sie schlagen sich in den 90er Jahren auf die Seite der Nationalen Rechten und attackieren die Republik aus völkischer Sicht.

 

Wiedersehen nach über 50 Jahren

Das Kunstprojekt boykottiert die systeme! gibt den Anfängen der Bewegung erstmals ein Gesicht. Die Aktivist:innen von damals ausfindig zu machen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und filmisch zu porträtieren, ist ein Kampf gegen die Zeit, denn die, die noch leben, sind hochbetagt. Dieter Kunzelmann, das letzte noch lebende Mitglied der Gruppe SPUR, stirbt 2018, einige Monate nach den ersten Filmaufnahmen. Die Idee, die zwischen Sizilien und den Niagara-Fällen lebenden Ex-Mitglieder der Subversiven Aktion zusammenzubringen, scheint zunächst verwegen. Ihr letztes Konzil – so heißen ihre regelmäßigen Treffen – war ins Wasser gefallen, nachdem die Gruppe im Frühjahr 1965 Kunzelmann ausgeschlossen und sich zerstritten hatte.

Tatsächlich können im Sommer 2018 acht ehemalige Subversive der Einladung nach München folgen: Hanna Blößer, Manfred Blößer, Volker Böckelmann, Birgit Daiber, Hersch Fischler, Rodolphe Gasché, Wolfgang Gessner und Bernd Rabehl. Sie diskutieren ihre Vergangenheit und ihre heutigen Gedanken zur Revolution und stellen sich der Diskussion mit den Teilnehmer:innen des Seminars „Kunst und Revolte” an der Münchner Kunstakademie. Filmisch begleitet werden sie von Student:innen der Hochschule für Fernsehen und Film München.

 

Entdeckung des Performativen

Mit Performances im urbanen Raum greift boykottiert die systeme! eine damals zeittypische Artikulationsform auf und transformiert sie in die Gegenwart. Die 60er Jahre sind die Jahre der Entdeckung des Performativen. Dies gilt für die Künste mit Fluxus und Performance wie für die neuen Protestbewegungen. Sie führen die disparaten Bereiche Ästhetik und Politik, Öffentlichkeit und Privatheit zusammen. Sie produzieren Gegenöffentlichkeit und schaffen Gemeinschaft und Freiheitsräume für die Mitglieder der Gruppe. Man kann sich gut vorstellen, mit welcher Lust die SUBVERSIVE AKTION Ideen für die Sabotage der Documenta 1964 gesammelt hat: Mescalin ins Eröffnungsdinner! Realisiert wurden sie nicht.

Der Vormärz von 1968 in München ist eine Geschichte des Aufbegehrens, des Protestes gegen postfaschistische und autoritäre Strukturen. Der Protest ist vielstimmig und wird von kleinen, kreativen Gruppen getragen. Die Gespräche mit den Aktivist:innen zeichnen einen Strang der Protestentwicklung nach und erhellen dieses wenig beachtete Kapitel der politischen Kulturgeschichte.


Dank

Unser Dank gilt allen Aktivist:innen, die dem Projekt viel Vertrauen entgegengebracht und auf großartige Weise unterstützt haben. Ebenso Heiner Stadler, Matthias Reichelt und Ulrich Chaussy, den Student:innen der Münchner Kunstakademie und der Hochschule für Fernsehen und Film, den Schauspieler:innen und Musiker:innen für ihr Engagement und all jenen, die im Hintergrund das Projekt gefördert haben. Unser besonderer Dank gilt Erwin Hartel vom Kulturreferat München, der das Projekt über die Jahre hinweg betreut hat.

 

PS

Auf das Projekt boykottiert die systeme! folgt im Jahr 2024 die Ausstellung Revolutionäre Ungeduld von Rudolf Herz im Museum Villa Stuck, München.

 

 

3 Performances, 1 Matinee

Freitag, 22. Juli 2022, 18 Uhr

streifzug schwabing

Birgit Daiber berichtet von der SUBVERSIVEN AKTION
Treffpunkt: Brunnen am Geschwister-Scholl-Platz, München

Streifzug mit Birgit Daiber, ehemals Aktivistin der SUBVERSIVEN AKTION, durch Schwabing: vom Geschwister-Scholl-Platz zur Bauerstraße 24, wo Dieter Kunzelmanns Kellerwohnung lag. Birgit Daiber fungiert als Fremdenführerin in die subversive Vergangenheit der frühen 60er Jahre. Das Publikum spaziert mit. Unterwegs gibt es kurze Passagen aus den „Unverbindlichen Richtlinien“ der SUBVERSIVEN AKTION und aus SPUR-Texten, gelesen von Figuren wie aus den frühen 60ern. Lesung: Sven Hussock, Marion Niederländer

 

Samstag, 23. Juli 2022, 13 Uhr

gaudi an die macht 

Das Januar-Manifest der Gruppe SPUR
Ort: Brunnen am Rindermarkt, München

Verkündung des Januar-Manifests der Gruppe SPUR von 1961, mit improvisiert-experimenteller Volksmusik.
Darsteller:innen: Pauline Großmann, Max Koltai, Çağla Şahin, Emma Stratmann (Theaterakademie August Everding). Musiker: Zoro Babel (Schlagwerk), Philipp Kolb (Trompete/Tuba), Wolfgang Roth (Saxophon). Komposition: Julia Wahren

 

Sonntag, 24. Juli 2022, 11 Uhr

Matinee Kurzfilme

Ort: Werkstattkino, Fraunhoferstraße 9, München

Vorführung der 7 Kurzfilme mit den Aktivist:innen und Gespräch mit Rudolf Herz und Julia Wahren

 

Sonntag, 24. Juli 2022, 15 Uhr

wie man die documenta sabotiert

Die SUBVERSIVE AKTION macht Pläne zur Sabotage der Kasseler Documenta von 1964
Ort: Königsplatz, Vorplatz zum Eingang Kunstbau, München

Multistilistisches Solo von Kammersänger Christopher Robson. Textgrundlage ist die „Liste von Einfällen für eine Aktion auf der Kasseler Documenta“ der SUBVERSIVEN AKTION. Komposition: Christopher Robson, Julia Wahren

 

7 Kurzfilme

Revolutionärer Grabpfleger

 

Rudolf Herz trifft Dieter Kunzelmann am Grab des SPUR-Künstlers Hans Peter Zimmer und seiner Frau Vera Zimmer
Dreifaltigkeitsfriedhof Berlin, Juni 2017

Ob als Politclown, Bürgerschreck oder mutmaßlicher Terrorist – mit Dieter Kunzelmann verbindet man gemeinhin West-Berlin. Seine aktivistischen Anfänge liegen jedoch in München, bei der Schwabinger Bohème.

Über die Gruppe SPUR lernt er das Gedankengut der SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE kennen, als deren deutsche Sektion die Münchner firmieren. Ihr oppositioneller Aktionismus bringt der Gruppe überregionale Aufmerksamkeit, doch davon verabschiedet sie sich 1962. Im kulturrevolutionären Geist des Situationismus entwickelt Kunzelmann ein Aktionskonzept, das auf die Erregung des Medieninteresses zielt und für die Protestkultur von 68 große Bedeutung gewinnen soll. Heute wird er vielfach der activist art zugeordnet und in der durch den Nationalsozialismus verschütteten Protesttradition des Dadaismus und revolutionären Surrealismus gesehen. Kunzelmann selbst bezeichnet sich als „Aktionspolitologe“.

 

Die Kirche rülpst in Agonie

 

Maria Obermeier befragt Manfred Blößer zu einem antiklerikalen Graffito von 1964
St. Ursula Kirche in München Schwabing, Juli 2018

Mitglieder der Subversiven Aktion bemalen die Vorhalle der St. Ursula Kirche in München-Schwabing mit dem Graffito „Die Kirche rülpst in Agonie, da hilft kein Böll, kein Amery!!"

Der Slogan hat eine doppelte Zielrichtung. Er attackiert die katholische Kirche wie auch Carl Amery und Heinrich Böll, zwei engagierte Schriftsteller und Linkskatholiken. Carl Amery, Vorsitzender des „Komitees gegen Atomrüstung“, veröffentlicht 1963 das kirchenkritische Buch „Die Kapitulation – oder Deutscher Katholizismus heute“. Heinrich Böll schreibt ein Nachwort zum Band, der es auf die Bestsellerliste des Spiegels schafft. Amery sieht die katholische Kirche infolge der Verfilzung mit der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft und den christlichen Parteien von „völliger Auszehrung“ bedroht und fordert eine Rückbesinnung auf die Werte der christlichen Verkündigung.

Für die Amtskirche sind Amery und Böll gefährliche Häretiker, für die Subversive Aktion bloß noch Ärzte am Bett eines todkranken Patienten. Ob der Slogan auf Dieter Kunzelmann persönlich zurückgeht, ist nicht bekannt. Im Sinne ihrer antiklerikalen Propaganda will die SUBVERSIVE AKTION im September 1964 den Deutschen Katholikentag in Stuttgart zu einem gigantischen Happening umfunktionieren und plant den Auftritt falscher Priester und das Kapern von Redepulten. Eine Aktion, die frühzeitig auffliegt. Das Flugblatt titelt frech: „Botschaft an die Lämmer des Herrn zum Katholikentag“.

 

Ich bin immer eine Antiautoritäre geblieben

 

Streifzug von Rudolf Herz mit Birgit Daiber in ihre subversive Vergangenheit
Amalienstraße, Maxvorstadt München, Juli 2017

Frauen spielen innerhalb der SUBVERSIVEN AKTION eine untergeordnete Rolle, nicht nur zahlenmäßig. Der Dokumentationsband der Gruppe nennt 28 Mitglieder, darunter sieben Frauen.

In ihren Rückblicken in dem Band gehen nur Frauen auf das Geschlechterverhältnis in der Gruppe ein und zeichnen ein ernüchterndes Bild – geprägt von einer patriarchal und autoritär geprägten Binnenstruktur, starker Diskrepanz zwischen Alltagspraxis und emanzipatorischen Zielsetzungen – und fehlender Solidarität unter den Frauen.

Birgit Daiber: „Die Männer haben nicht nur uns Frauen unterdrückt, sie konnten dieses Spielchen auch untereinander nicht seinlassen… ich schwärmte für die großen Alleswisser, hockte staunend und fasziniert neben ihnen... In ihrer Gegenwart fror mir das Mundwerk ein, ich schämte mich zutiefst für meine Unfreiheit und mein Unwissen… Das Gerede von zu befreiender Sexualität wuchs mir zu den Ohren hinaus, ging es dabei doch allemal um die Sexualität des Mannes.“ Und Sabine Goede: „Jeder kontrollierte jeden mit Argusaugen, ob er offen genug war und radikal und rückhaltlos der Gruppe sich auslieferte, um mit ihr die Denk- und Verhaltensweisen des ‚homo subversivus’ zu internalisieren und langfristig auf die Veränderung des falschen Ganzen hinzuwirken… Trotzdem war diese Gruppe Familienersatz und ideale Bezugsgruppe, versprach sie doch wenigstens theoretisch die Auflösung jener Strukturen, unter denen ich in der Familie stets gelitten hatte, die Auflösung unhinterfragbarer Autorität durch die Mittel der Argumentation.“

 

Utopie mit Automaten

 

Luca Daberto im Gespräch mit Wolfgang Gessner über Chancen und Risiken künstlicher Intelligenz
Künstlerhof Türkenstraße, Maxvorstadt München, Juli 2018

Der dänische Maler Asgern Jorn veröffentlicht bereits 1958 in der ersten Nummer der „Situationistischen Internationale“ den Aufsatz „Die Situationisten und die Automation“ und unterstreicht damit sein Interesse für moderne Technologien.

Bedauernd konstatiert er bei avantgardistischen Tendenzen Schwarzmalerei und bei reaktionären Kräften „einen idiotischen Optimismus.“ Im Sinne einer sozialistischen Perspektive stellt er die Frage: „Wo sind solche Aussichten zu finden, die aus dem Menschen den Herrn über die Automation und nicht ihren Sklaven machen würden?“ Kunzelmann greift 1964 in Heft 2 des „Anschlag“, des theoretischen Organs der SUBVERSIVEN AKTION, die situationistische Kritik auf und fordert: „Durch Automation zur Revolution“. „Der Schrecken, den ihr Nahen verkörpern soll, möchte den Schrecken beschwichtigen, der Freiheit heißen könnte. Vergessen machen soll der ‚Teufel’ Automation, dass er dazu dienen könnte, eine teuflische Gesellschaft abzuschaffen.“

Kunzelmann ist sich der Probleme bewusst: Mehr Freizeit durch Automation gehe Hand in Hand mit mehr Manipulation durch Güterkonsum und Massenmedien. „Der brutale Menschenverschleiß der Industrie im 19. Jahrhundert findet heute seine Parallele im proklamierten Güterverschleiß.“ Mahnend zitiert er Herbert Marcuse: „Die wahrhaft befreienden Wirkungen der Technik sind im technischen Fortschritt als solchem nicht enthalten; sie setzen gesellschaftliche Veränderungen voraus, die sich auf die grundlegenden ökonomischen Institutionen und Verhältnisse erstrecken.“

 

Bayrische Weihnacht unter Rebellen

 

Rudolf Herz spricht mit Gretchen Dutschke-Klotz über ihre Begegnung mit Münchner Linksradikalen
Kochelsee in Oberbayern, September 2020

Es ist ein konspiratives Treffen am oberbayerischen Kochelsee im Juli 1966, das zur Gründung der Kommune 1, der ersten politischen Wohngemeinschaft in Deutschland und West-Berlin, führt.

Dieter Kunzelmann lädt Berliner Aktivisten um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl und einige Münchner Genoss:innen ein, um über den „eklatanten Widerspruch zwischen gigantischer Theorie im Hirn und zwergwüchsiger Praxis’“ zu diskutieren. Die einwöchige Klausur findet im Landhaus oberhalb des Sees statt, das dem Vater des SDS-Mitglieds Lothar Menne gehört. Die Gruppe nennt sich Viva-Maria-Gruppe, nachdem sie gemeinsamen den gleichnamigen Revolutionswestern von Louis Malles gesehen hat. Der Actionfilm mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau handelt von einer wilden Revolution in Mexiko und befeuert die Revolutionseuphorie nicht nur dieser Gruppe. Um die individuelle Vereinzelung zu überwinden und ein gemeinsames Leben mit politischer Praxis zu verbinden, wird in Kochel nun konkret beschlossen, solidarische Wohngemeinschaften zu gründen, und zwar in West-Berlin.

Bereits ein halbes Jahr zuvor, an Weihnachten 1965, findet im kleinen Kreis ein erstes Treffen am Kochelsee statt, an dem auch Gretchen Dutschke, zu dem Zeitpunkt noch unverheiratet, teilnimmt. Nächtelang wird über den Philosophen Herbert Marcuse, den Sexualtheoretiker Wilhelm Reich und vor allem Frantz Fanon, den Vordenker der Entkolonialisierung, diskutiert. Dutschkes besonderes Interesse gilt den Entwicklungsländern und ihren antikolonialen Bewegungen, in denen er einen wichtigen weltrevolutionären Hebel sieht. Im Stil der SUBVERSIVEN AKTION organisieren er und Kunzelmann kurz darauf in Berlin und München eine spektakuläre Plakataktion gegen den eskalierenden Vietnam-Krieg und finden eine bis dahin unerreichte Aufmerksamkeit.

 

Wie man auch leben kann

 

Daniela Koch und Julie Timoshkin begleiten Rodolphe Gasché auf einem Streifzug an Orte seiner Erinnerung
München Schwabing, Juli 2018

Der Luxemburger Chemie-Student Rodolphe Gasché lernt Dieter Kunzelmann Anfang 1961 kennen und ist fasziniert von der unkonventionellen Lebenswelt des Bohemiens.

Insbesondere von dessen Wohnung, einem muffigen Keller in der Bauerstraße, armselig, aber übervoll an Ideen: „Eine warme Atmosphäre bestimmte den Raum, der im Winter von einem Kohleofen geheizt werden konnte. Diese Atmosphäre war zudem intellektuell. Es ging immer um Themen, um Auseinandersetzung und zu Diskutierendes.“ Dieser Ort „gebar ebenfalls kolossale Fantasien eines radikalen Umsturzes, einer Revolution, im Vergleich zu der alle bisherigen Revolutionen verblassen sollten. Das Licht, das in ihm brannte, wollte hinaus aus diesem Untergrund, hinaus ans Tageslicht, auf die Straße, in die Öffentlichkeit. Bataille’sche Fantasien animierten seinen Bewohner, seine Besucher und mich,“ notiert Gasché.

Kunzelmann fällt schon wegen seiner roten Haare auf, er lebt exzessiv und ist stadtbekannt. Man trifft sich im Tchibo-Café an der Ecke Hohenzollern-/Leopoldstraße: Obwohl mehr ein Stehcafé, lagen dort reichlich Zeitungen aus, wie in einem Wiener Kaffeehaus. Oder im Perkeo-Keller an der Elisabethstraße und im Gasthaus Weinbauer. Im Café Europa nimmt im Oktober 1961 ein junges Pärchen Anstoß an der Nummer 6 der Zeitschrift „Spur", die Kunzelmann und andere Mitglieder der Gruppe zum Verkauf anbieten, und erstattet Anzeige.

 

Das 5. Konzil

 

Rudolf Herz lädt die Aktivisten der Subversiven Aktion zu einer kontroversen Rückschau ein
Künstlerhof Türkenstraße, Maxvorstadt München, Juli 2018

Die Subversive Aktion ist eine lockere Gruppierung, ohne Geschäftsordnung oder Vorstand. Sie agiert überregional, besteht aus Kunstschaffenden, Studierenden und Freigeistern und trifft sich alle paar Monate zu ihren Konzilen.

Im Einladungsschreiben zur Gründung im November 1963 beruft sich Kunzelmann auf André Breton: „Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung: wir gehören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen.“ Die SUBVERSIVE AKTION vertritt eine konsum- und gesellschaftskritische Radikalkritik, die sich an den Neomarxismus der Frankfurter Schule anlehnt, aber deren Kulturpessimismus und Praxisverzicht zurückweist und mit Flugblattaktionen und Happenings eine Welle von „Mikrorebellionen“ hervorrufen will: „Kritik muss in Aktion umschlagen. Aktion entlarvt die Herrschaft der Unterdrückung.“

Aus ihren gezielten Störungen entwickelt sich die bewusste Regelverletzung als künftiges Modell des studentischen Protestes. Neben dem Zentrum in München gibt es in West-Berlin eine tatkräftige Mikrozelle, die unter dem Namen ANSCHLAG-Gruppe auftritt. Tonangebend sind in Berlin Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, zwei „Abhauer“ aus der DDR. Die Gruppe ist zu keinem Zeitpunkt ideologisch homogen, was auch die Artikel ihres theoretischen Organs „Anschlag“ zeigen.

Angesichts bescheidener Mobilisierungserfolge forciert Kunzelmann Anfang 1965 die Aktivitäten und sucht die Zusammenarbeit mit marxistischen Organisationen. Dafür findet er bei der Mehrheit und vor allem bei Frank Böckelmann aber keine Zustimmung. Nicht zuletzt wegen seines autoritären Auftretens wird Kunzelmann aus der Gruppe ausgeschlossen. Faktisch ist es eine Spaltung, denn Dutschke und Rabehl solidarisieren sich mit ihm. Der Rest der Gruppe distanziert sich vom Aktivismus.

 

Rudolf Herz
Julia Wahren

Rudolf Herz und Julia Wahren leben in München und arbeiten häufig zusammen, so 2016 bei ihrem Kurzfilm „Ox No Ox. A Legend from Madagascar“ mit der madagassischen Filmerin Hary Rason, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. 2018 erschien ihr Hörspiel „Desperados oder Hitler geht ins Kino“ im Auftrag des Bayerischen Rundfunks. Ihre Multimedia-Performance „Lurie’s Lyrics“ kommt im November 2022 zur Uraufführung in den Münchner Kammerspielen.

 

Rudof Herz und Julia Wahren

 

 

Rudolf Herz (*1954) studierte Bildhauerei und Kunstgeschichte, erhielt das Villa-Massimo-Stipendium und unterrichtet als Honorarprofessor an der Münchner Kunstakademie. Seine künstlerischen und seine bildhistorischen Forschungen stehen in engem Zusammenhang und beziehen sich oftmals auf erinnerungspolitische Diskurse. 1991 machte er der Stadt Dresden den Vorschlag, das dortige Lenin-Denkmal in demontierter Form an Ort und Stelle zu konservieren. Nach dessen Scheitern fuhr er 2004 mit den monumentalen Granitbüsten, mit „Lenin on Tour“, durch Europa. Unter dem Motto „Meinen Zeitgenossen zeige ich Lenin. Und Lenin das 21. Jahrhundert. Wer erklärt es ihm?“. Zusammen mit Reinhard Matz war Herz 1997 Preisträger im Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Der viel diskutierte Entwurf „Überschrieben“ sah vor, einen Kilometer Autobahn bei Kassel zu pflastern und zum Denkmal zu erklären und aus dem Verkauf des Berliner Wettbewerbsgrundstücks eine Stiftung für gegenwärtig verfolgte Minderheiten zu finanzieren.

 

Julia Wahren (*1968) hat an der Musikhochschule Detmold studiert; Engagements führten sie ans Deutsche Theater Göttingen und ans ETA-Hoffmann-Theater Bamberg. Sie macht Theater, Film, Performance, Sound- und Voice Art, u.a. bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen, beim Festival Public Art Munich 2018, am Hunter College und am Deutschen Haus New York City. Ihre Themen sind der Mensch, seine Bindungen und seine Freiheit – die gestalterische Macht des Spiels und der Fiktion. Julia Wahren agiert auf Bühnen und im öffentlichen Raum, mit Kolleg:innen aus allen Kunstsparten, etwa dem Ensemble Horizonte, Così facciamo und der Munich Contemporary Music Group. In ihren Projekten erforscht sie die Grenzen zwischen Genres und Formen, Improvisation und Komposition und schafft daraus eigene  Synthesen.

 

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Harald Fersch, München

 

Bildnachweis

Gruppe SPUR mit Zeitschrift SPUR, 1961, SPUR Archiv Berlin; Heimrad Prem, Helmut Sturm und Dieter Kunzelmann verteilen das Gaudi-Manifest, 1961, Privatarchiv; Teilnehmer des 5. Konzils der SUBVERSIVEN AKTION, 2018, Aufnahme Matthias Reichelt; Mitglieder der SUBVERSIVEN AKTION in Dieter Kunzelmanns Keller, 1964, Aufnahme Ernst Grasser; 5. Konzil der SUBVERSIVEN AKTION, 2018, Aufnahme Matthias Reichelt; Rudolf Herz / Julia Wahren, Aufnahme Inge Ofenstein.